Sollte man sich trotz einer erfolgreichen beruflichen Karriere eigentlich Gedanken über den Sinn seines Lebens machen? Oder ist beruflicher Aufstieg inklusive Sinnerfüllung bereits purer Luxus? Und wie findet man heraus, was man im Leben wirklich will? Antworten dazu in meinem neuesten Coachingfall.
Ralf W., 45 Jahre, verheiratet, 2 Kinder – 11 und 14 Jahre – traf ich in seiner Mittagspause zu einem Vorgespräch. Er war sehr gut gekleidet, machte auf mich aber einen hektischen und erschöpften Eindruck. Ralf hatte nach seinem Studium verschiedene Aufgaben bei einem großen Automobilhersteller übernommen und war die Karriereleiter bis zur Führung der Abteilung Mergers & Acquisitions emporgestiegen. Er und sein Team hatten in den vergangenen 10 Jahren viel Energie investiert, um andere Unternehmen für seinen Arbeitgeber zu erwerben. Sie arbeiteten in einem sehr stressigen Umfeld einen Deal nach dem nächsten ab. Und der Erfolg gab ihnen Recht – fast alle Beteiligungen und Übernahmen entwickelten sich sehr gut und trugen positiv zum Gesamtergebnis des Konzerns bei. Er erhielt sehr viel Lob für seine Arbeit und war so etwas wie der „Star“ unter den Abteilungsleitern, was sich auch finanziell auszahlte. Da der aktuelle CFO aus Altersgründen zum Jahresende ausscheiden würde, wurde von Ralf erwartet, sich im Herbst für die Nachfolge des zum Jahresende ausscheidenden CFO zu bewerben. Einer weit höher dotierten und sehr verantwortungsvollen Position im Unternehmen.
Im gerade vergangenen Sommerurlaub am Meer hatte die von ihm erwartete Bewerbung in seinen Gedanken eine immer größere Rolle eingenommen. Beim Spielen mit seinen Kindern am Strand kam in ihm der Gedanke auf, dass er seine Kinder beim Heranwachsen eigentlich viel zu wenig begleitet und sich durch die vielen Auslandsaufenthalte und langen Arbeitsstunden auch von seiner Frau etwas auseinandergelebt hatte. Er hatte eigentlich auch keine richtigen Hobbies mehr und sein früheres Interesse an Umweltthemen und sportlichen Aktivitäten lagen ebenfalls brach.
Ihm gingen daher folgende Fragen nicht mehr aus dem Kopf: Ist es wirklich wert, die Karriereleiter noch höher aufzusteigen? Ist es wirklich wert, sein Leben außerhalb der Firma weiterhin an sich vorbeirauschen zu lassen? Er fragte sich, wofür er den hohen beruflichen Einsatz eigentlich erbracht hatte und ob er alleine mit seinem beruflichen Erfolg wirklich glücklich war und in Zukunft sein würde. Ihn beschlich das Gefühl, dass er sich mit der Frage, wie er sein Leben in der zweiten Lebenshälfte gestalten möchte viel intensiver beschäftigen müsste, bevor er sich wirklich auf der Stelle des CFO bewarb.
„Trotz meiner sehr erfolgreichen Karriere ertappe ich mich immer öfter bei Gedanken darüber, wofür ich eigentlich arbeite. Sollte ich nicht glücklich sein mit meiner sehr zufriedenstellenden beruflichen Situation und der Chance, sogar noch weiter aufzusteigen? Und wie soll ich mit diesen Gedanken umgehen? Ausblenden oder ihnen nachgehen? “.
Nach der Schilderung seiner Situation verabredeten wir uns zur ersten Coaching Session. Ralf wollte eine Idee davon zu bekommen, wie er mit seinen Gedanken über den Sinn in seinem Beruf und in seinem Leben umgehen und in die richtigen Bahnen lenken sollte. Zunächst betrachteten wir seine aktuelle berufliche Situation. Ralf hatte viel Erfolg gehabt, erhielt ausreichende Wertschätzung, führte ein gutes Team, hatte Einfluss in der Firma und war relativ eigenständig in seinen Entscheidungen. Er lernte ständig dazu, hatte Spaß an dem was er machte und war mit der Vergütung als Abteilungsleiter mehr als zufrieden.
Das Thema Sinn und Identifikation mit der Arbeit war in den letzten Jahren durch seinen Arbeitgeber zunehmend thematisiert worden und sprach ihn ebenfalls sehr an. Nachhaltige Mobilität der Zukunft und Klimaneutralität waren ein Thema, das ihn schon zur Studentenzeit interessiert hatte, wenn auch nicht so konkret wie heute. Nun war es seine Aufgabe, Firmen mit Expertise in genau diesen Bereichen zu erwerben, um seinen Arbeitgeber im Bereich Nachhaltigkeit voranzubringen. Im Gegensatz zu vielen Menschen hatte Ralf also einen Beruf, der nicht nur die Grundbedürfnisse nach Wohnen, Unterhalt, Ausbildung etc., also einem wirtschaftlich betrachtet guten bzw. sehr guten Leben abdeckte. Sein Beruf besaß zudem einen übergeordneten Sinn, mit dem er sich persönlich identifizieren konnte.
Studien haben herausgefunden, dass wir mit unserem Leben zufriedener und glücklicher sind, je sinnvoller unsere berufliche Tätigkeit für uns ist. Aber irgendwann geraten viele Menschen an einen Punkt, an dem sie sich neben der Frage nach dem Sinn ihrer Arbeit auch die Frage nach dem Sinn in Ihrem Leben stellen. Und zwar nach dem bisherigen Leben – und dem, was noch folgen sollte. Genau an dieser Stelle war Ralf mit seinen 45 Jahren angekommen. Auch wenn er mit seinem Beruf insgesamt sehr zufrieden war, hatte er für diese Zufriedenheit auch einen Preis gezahlt. Durch die vielen Reisen, die teilweise bis in die tiefe Nacht gehenden langen Bürostunden und die hektischen Abschlüsse hatte seine Gesundheit und seine Work-Life Balance stark gelitten. Er hatte zugenommen, fühlte sich nicht mehr so wohl in seiner Haut wie früher und hatte viel zu wenig Zeit für seine Familie. Sein soziales Leben war stark reduziert. An Hobbies oder Zeit für sich war kaum zu denken. Durch seine Sommerreflektionen und die anstehende Entscheidung über die nächst höhere Karrierestufe hatte er zunehmend den Wunsch verspürt, so nicht weiter machen zu wollen und etwas zu verändern.
Um herauszufinden, welche Veränderungen er vornehmen und welche sinnvollen, bedeutsamen und wichtigen Ziele er in seinem weiteren Leben erreichen möchte, erhielt Ralf zunächst die Hausaufgabe, sich und sein bisheriges Leben systematisch zu erforschen. Er sollte dafür eine umfangreiche Liste mit über 50 verschiedenen Fragen beantworten. Diese Fragen drehten sich 1. um die Werte, die ihn leiten, 2. um seine Fähigkeiten, seine Interessen und seine Talente, 3. um seine Persönlichkeit, 4. um seine Energiespender und seine Glücksquellen und schließlich 5. um Themen, in denen er seinen Sinn fand.
Zur nächsten Coaching Session brachte Ralf daher einen bunten Blumenstrauß an Informationen über sich und sein bisheriges Leben mit. Eine Art biographische Standortbestimmung. Wir begannen damit, die vielen Fakten aus seiner bisherigen Lebensgeschichte visuell an einer großen Wand zusammenzutragen und zu ordnen. Was waren seine größten Stärken? Was waren seine hervorstechendsten Persönlichkeitsmerkmale? Welches waren seine Lieblingstätigkeiten? Wofür interessierte er sich wirklich? Was machte ihn glücklich und zufrieden? Worin fand er besonders viel Sinn? Und – ganz wichtig – was wollte er auf keinen Fall in Zukunft mehr machen?
Aus der Aufbereitung seiner Vergangenheit und seiner damit verbundenen Lebensgeschichte begannen wir nun, ein Lebensthema für die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft zu erarbeiten. In einem gemeinsamen Brainstorming entwickelte Ralf sehr viele verschiedenen Ideen, Träume und Phantasien und wurde mit zunehmender Zeit immer begeisterter, was ihm außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit in Zukunft wirklich Spaß machen würden. Und wie er mehr Zeit mit seiner Familie und seinen Freunden verbringen könnte. Wir begannen gemeinsam daran zu arbeiten, wie und mit welchen Ressourcen Ralf seine Ziele erreichen konnte. Und wie er dies mit seinem Beruf in Einklang bringen könnte. Es war der Beginn einer Veränderung, die eigentlich schon lange in seinem Kopf geschlummert hatte, aber erst im Coaching sichtbar, konkret und greifbar wurde. Das Coaching gab ihm dabei eine Orientierung und unterstütze ihn, die eigenen Wünsche zu erkennen und dabei zu helfen, diese anschließend zielorientiert umzusetzen.
Ein halbes Jahr später kam Ralf zum Anschluss Coaching. Er machte auf mich einen wesentlich entspannteren und ausgeglicheneren Eindruck. Seine Kleidung war lockerer und legerer als noch vor einem halben Jahr. Er berichtete, dass er sich nach intensiven Gesprächen mit der Unternehmensführung über unser Coaching und seine Lebensplanung nicht für die Position des CFO beworben hatte und vereinbart hatte, seine wöchentliche Arbeitszeit auf 80% zu reduzieren, um wieder mehr Zeit für sein Privatleben zu finden. Nach einiger Eingewöhnungszeit und Aufgabenumverteilung in seinem Team klappte dies auch sehr gut. Er konnte seine Auslandsreisen reduzieren und fühlte sich trotz bzw. aufgrund der etwas geringeren Arbeitszeit viel effizienter als zuvor. Die Familie hatte sich, sehr zur Freude der Kinder, einen Hund zugelegt. Er verbrachte an den Wochenenden mehr Zeit mit seinen Kindern, die in verschiedenen Fußballmannschaften spielten und bekam dadurch auch mehr Kontakte zu anderen Eltern, die zuvor nur seine Frau kannten. Die Beziehung zu seiner Frau hatte sich ebenfalls verbessert, sie hatten die gemeinsame Leidenschaft für den Umweltschutz wieder aufleben lassen und engagierten sich in verschiedenen regionalen Initiativen. Zudem begann er im Winter zu schwimmen und im Frühjahr zu laufen und hatte bereits einiges an Gewicht verloren. Er hatte die Veränderungen tatsächlich eingeleitet und den Abschnitt in seine zweite Lebenshälfte mit viel Lebensfreude begonnen.
Es ist kein Luxus, sich über den Sinn seiner beruflichen Tätigkeit hinaus Gedanken über sein Leben zu machen. Im Gegenteil. Wenn man trotz erfolgreicher Karriere Gedanken in sich trägt, dass man neben der sinnerfüllten Arbeit ein Leben hat, das nicht glücklich macht, dann ist es höchste Zeit, sich mit seinem Lebenssinn intensiver zu beschäftigen und etwas zu verändern. Coaching kann bei der Sinnfindung einen sehr wichtigen Beitrag leisten.
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